Macht mich Social Media krank? Eine Diagnose in 3 Akten

Wer morgens als Erstes nach dem Aufstehen ein Bier trinkt, ist ein Alkoholiker. Wer als Erstes zur Zigarette greift, ist nikotinabhängig – wie nennt man jemanden, der kurz nach dem Aufwachen als Allererstes zu seinem Smartphone greift? Korrekt.

1. Akt: Wer ist jetzt der Idiot?

Es ist der 23. August 2014 und ich sitze auf meinem Balkon und blicke in den Sonnenuntergang. Vor ein paar Minuten habe ich das erste Bild bei Instagram hochgeladen – von der App hatte ich schon lange gehört, aber Bilder von meinem Essen posten? Wie albern! Ich scrolle durch die App und finde das Profil eines Bekannten aus meiner Modelagentur, der schon länger Selfies postet, belanglose Dinge in die Kamera schwadroniert und so Zigtausende Follower an seinem Leben teilnehmen lässt. Hat der Idiot nichts Besseres zu tun? Ich ziehe kurz in Erwähnung regelmäßiger zu posten und lasse es dann doch sein. Jetzt damit anzufangen, macht auch keinen Sinn mehr. Der Zug ist abgefahren. Ja nee, ist klar.

Fun Fact: Dieser Bekannte braucht heute übrigens keine Modelagentur mehr, denn er ist seine eigene Marke: André Hamann posiert für weltweite Parfum-Kampagnen, tritt in Fernsehshows auf und vermarktet seinen eigenen Schmuck. Wer ist jetzt der Idiot?

2. Akt: Hätte ich es wissen müssen?

Mittlerweile versuche ich mir früher auf die Schliche zu kommen: Wobei denke ich gerade, dass der Zug schon abgefahren ist? Wahrscheinlich ist der Zug noch gar nicht eingefahren und ohnehin hätte ich es besser wissen müssen: Im Jahr 2010 fand ich meine wunderbare Wohnung im spanischen Auslandssemester nur durch einen Aufruf auf Facebook. Seitdem war ich ein großer Verfechter des Teilens von vermeintlich uninteressanten Anliegen – dessen ungeachtet nutzte ich Social Media jahrelang nur als persönlichen PR-Kanal, auf dem ausgewählte Highlights kommuniziert wurden: Helikopterflug in Südafrika, Sundowner in Südfrankreich oder Abschluss der Promotion.

Heute weiß ich um die berufliche Bedeutung moderner Mund-zu-Mund-Propaganda, denn nichts anderes ist Social Media. Wer diesen Mechanismus nicht zu nutzen weiß, ist selbst schuld. Daher pflege ich zwei Instagram Accounts: Einen für meinen Podcast und einen privaten, der nicht sonderlich privat ist, weil ich über 19.000 Menschen an meinem Leben teilhaben lasse. Die Inhalte meines Podcasts verteile ich ohnehin systematisch in den sozialen Medien – mittlerweile immer häufiger auch auf YouTube. Zudem bemühe ich mich, Facebook nicht für tot zu erklären, probiere albernes Zeug auf TikTok aus und bin ein Fan von LinkedIn geworden (im krassen Unterschied zur Lebenslauf-Datenbank Xing).

„Social Media ist nichts anderes als moderne Mund-zu-Mund-Propaganda. Wer das nicht für sich zu nutzen weiß, ist selbst schuld.“

Social Media ist mein täglicher Begleiter und offen gesagt: Ich liebe es! Eins von vielen Beispielen: Vor ein paar Monaten ist jemand über Instagram auf meinen Podcast aufmerksam geworden. Inzwischen gehört die Person zur treuen Hörerschaft und eine Konferenz nutzten wir kürzlich, um uns kennenzulernen – was haben wir uns gut unterhalten! Nur wenige Stunden später spreche ich auf derselben Konferenz mit einer Person, die vor ein paar Monaten „alles“ gelöscht hat: „Menschen kann ich auch offline kennenlernen. Das hat früher ja auch geklappt.“ Stimmt. Eine Kutsche bringt dich heute auch noch von A nach B. Aber kommen wir zur Ausgangsfrage zurück…

3. Akt: Ist das süchtig oder krank?

Meine Social-Media-Nutzung war anfangs privates Vergnügen, dann erkannte ich den beruflichen Benefit und heute ist es ein professioneller Baustein meines Lebens (Stichwort: Social Recruiting). Mit anderen Worten: Ich bin ständig on. Und wenn ich ehrlich bin, fällt es mir immer schwerer, off zu sein.

Deswegen gehöre ich zu den 63% Erwachsenen, die versuchen, ihre Smartphone-Nutzung zu begrenzen und sich fragen, was Social Media mit ihnen macht. Bin ich süchtig oder krank? Und gibt es da eigentlich einen Unterschied? Eine Studie aus diesem Sommer thematisiert, inwiefern sich unser „Like-Verhalten“ auf unsere Gesundheit auswirkt:

Quelle: Internet Trends, 2019

Ich erkenne mich in vier positiven und nur einem negativen Aspekt wieder (fear of missing out). 4:1 für Social Media. Glücklicherweise kämpfe ich weder mit Depression, meinem Selbstwertgefühl oder Schlafproblemen, aber dieses Gefühl, dass ich etwas verpassen könnte, kenne ich nur allzu gut.

So kommt es, dass ich am Essenstisch im Urlaub auf digitale Dopamin-Jagd gehe: Bevor das Carpaccio gebracht wird, schnell auf ein paar Kommentare antworten, kurz die Mails neu laden, ein Foto bearbeiten und wenn ich schon dabei bin, es gleich als Instagram-Story posten. Danach habe ich kein Problem damit, mein Smartphone wegzulegen, aber bei der nächstbesten Gelegenheit werde ich mich fragen: „Jetzt könnte ich doch mal kurz schauen, ob…“

Fazit

Wenn ich morgens meditiere, kann ich mein Smartphone ohne Weiteres im Flugmodus lassen. Aber im Anschluss freue ich mich herauszufinden, was ich in den letzten 8 Stunden verpasst haben könnte. Ich bin süchtig, okay, aber nicht krank. Oder ist die Tatsache, dass ich Wert auf diese künstliche Trennung lege nicht der Beweis für meine Krankheit? Ich weiß es nicht. Was ich weiß, ist, dass meine Social-Media-Nutzung keine Frage von schwarz oder weiß, immer on oder immer off sein kann. Die Dosis macht bekanntlich das Gift. Während für mich ganz klar die Vorteile überwiegen, merke ich, wie es mir immer schwerer fällt, die richtige Balance zu finden…oh, das Carpaccio ist da. Schnell noch ein Foto machen…

 

Guten Appetit! 😉

Dr. Aaron Brückner
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